Künstliche Intelligenz in der Assekuranz: Von Ängsten und Potenzialen

01.06.2021

Verena Fink und Claudia Bünte

Künstliche Intelligenz macht weder vor Industrieunternehmen noch vor Unternehmen in der Versicherungsbranche halt. Insbesondere im Bereich Marketing, Vertrieb und der Serviceoptimierung kommt KI heute zum Einsatz. Wir haben mit den beiden KI-Expertinnen Verena Fink und Prof. Dr. Claudia Bünte darüber gesprochen, was KI ist, warum sich KI in Deutschland nur vergleichsweise langsam durchsetzt, und worauf es ankommt, wenn eine Versicherung KI einführen möchte.

AMC: Frau Fink, in aller Kürze: was ist KI?
Verena Fink: Künstlich Neuronale Netze (KNN) sind dem menschlichen Gehirn nachgebildet, wie eine Wolke aus Neuronen, die über Synapsen mit ihren Nachbarn verbunden sind. Neuronale Netze können so über unzählige miteinander vernetzte Datenpunkte enorm schnell Informationen verarbeiten, da mehrere Millionen Einzelelemente parallel arbeiten. Die Merkmale der Daten, die von Schicht zu Schicht wandern, werden immer abstrakter und das System muss selbst herausfinden, wie sich Muster und Zusammenhänge erklären lassen. Entscheidungen kann KI besonders gut unterstützen, wenn in Echtzeit entschieden werden soll, da sie Unmengen an Daten in Sekundenbruchteilen verarbeitet.

AMC: Frau Bünte, laut Ihrer aktuellen Studie „KI - die Zukunft des Marketings“ befinden 91 % KI als wichtig für ihr Unternehmen. 72 % bewerten KI im Marketing als einen Treiber für den Erfolg ihres Unternehmens. Aber nur rund 8 % nutzen KI im Marketing regelmäßig. Wie kommt es, dass sich KI in Deutschland nur vergleichsweise langsam durchsetzt?
Claudia Bünte: Das haben sich mein Team und ich auch gefragt und in der aktuellen Studie - übrigens die dritte nach 2018 und 2019 - die Gründe analysiert. Wir können insgesamt fünf Punkte identifizieren, die Manager*innen daran hindern, KI entsprechend des eigentlichen Potenzials einzusetzen:

  1. das Wissen zu KI ist nach eigener Einschätzung eher gering,
  2. die Einstellung gegenüber KI verändert sich zwar positiv, es gibt aber weiterhin Skeptiker*innen,
  3. die KI-Einschätzungen von Führungskräften und Mitarbeitenden im selben Team unterscheiden sich deutlich,
  4. der Fokus auf Daten ist teilweise nur gering ausgeprägt und
  5. die Erfahrungen mit KI bewegen sich bisher auf geringem Niveau.
Diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen, erscheint vergleichsweise unaufwändig, denn dazu benötigt man keine speziellen KI-Fähigkeiten, sondern ganz normale Managementfähigkeiten. Trainings und Schulungen der Teammitglieder z.B. beheben das Gefühl, nur wenig über KI zu wissen.

AMC: Frau Fink, künstliche Intelligenz macht vielen Menschen Angst. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Und was können Versicherer Grundlegendes für ihre Mitarbeitenden tun, um ihnen die Angst zu nehmen?
Verena Fink: Stimmt, das erlebe ich noch sehr häufig. Nach meiner Erfahrung hat es oft mit Xenophobie zu tun, der Angst vor dem Fremden. Das, was ich nicht kenne, ist potentiell bedrohlich. KI ist ja immer auch die Technologie, die wir heute noch nicht verstehen. So gesehen war für unsere Vorfahren ein Taschenrechner auch irgendwann KI und heute fürchtet sich wohl keiner mehr vor einem Taschenrechner. Oft wird pauschal prognostiziert, dass KI Jobs vernichtet. Ich glaube allerdings, Jobverlust haben wir, wenn wir uns nicht vorbereiten und nicht mit KI auseinandersetzen. Gegen Xenophobie hilft Neugier, und um Ängste zu überwinden hilft Erfahrung in der Arbeit mit KI. Denn für mich gilt: Keine KI ohne Menschen. Es geht nicht nur darum, die Menschen auf neue Maschinen vorzubereiten, sondern in den Fachbereichen, wo KI eingesetzt werden soll, werden Mitarbeitende neue Arbeitsprozesse gestalten, anpassungsfähige Modelle designen und KI-Anwendungen trainieren, steuern oder kontrollieren.

AMC: Worauf kommt es Ihrer Meinung nach an, wenn eine Versicherung KI einführen möchte, und welcher Spagat kommt auf Führungskräfte zu?
Claudia Bünte: KI ist offenbar gekommen, um zu bleiben. Wer KI einsetzt, hat Wettbewerbsvorteile – wer nicht, eventuell Nachteile. Daher wäre es sinnvoll, KI jetzt auszuprobieren, zu testen, anzupassen und selbst zu lernen. Legen Sie mit Ihrem Team vor einem Einsatz einige Kernpunkte fest. ABER: KI ist ein Werkzeug wie alle anderen Managementtools. Es ist nur gut, wenn man weiß, was man damit erreichen will. Mit anderen Worten, der wichtigste Punkt ist, dass Sie definieren, WAS Sie erreichen wollen und erst dann festlegen, welches Tool das richtige ist. Verena Fink: Führungskräfte brauchen vor allem einen positiven Pragmatismus. Sie müssen sich selbst und den Mitarbeitenden klar machen, was kann KI und was nicht? Dann gilt es einen passenden Anwendungsfall zu finden. Wo reichen die Prozesse in meinem Bereich nicht mehr aus? Wo beschweren sich Kollegen und Kolleginnen über langatmige Abläufe? Was nervt Kunden an Kontaktpunkten? Versicherungsunternehmen sollten immer zuerst über ihre Kunden nachdenken und im Zweifel auf Kooperationen in Ökosystemen setzen, statt eigene Paläste zu bauen, die anschließend in Schönheit sterben. Eine Führungskraft sollte das Team kulturell begleiten und rechtzeitig Weichen stellen, damit Mensch und Maschine zukünftig auf Augenhöhe zusammenspielen können.

AMC: Und haben Sie Tipps für den erfolgreichen Einsatz von KI im Marketing einer Versicherung?
Verena Fink: Wenn ein Versicherer KI einführen möchte, ist verantwortungsvolles Handeln oberste Pflicht. Ein verantwortungsvoller Umgang mit KI-Projekten basiert für mich auf drei Säulen:

  1. Wissen,
  2. Nachvollziehbarkeit und
  3. Transparenz.
  4. Unternehmen sollten verstehen und nachvollziehen können, wie ihre KI Entscheidungen trifft, und wie KI Mitarbeitende bzw. Kunden beeinflusst. Nur wenn alle Akteure den Prozess und die Entscheidungen der KI verstehen, kann auch die Kontrolle über den Algorithmus behalten werden. Unternehmen, die KI einsetzen und gleichzeitig das Vertrauen der Kunden und Mitarbeitenden behalten wollen, sollten transparent agieren, indem sie Einblicke in die Daten und Entscheidungen gewähren. Menschen mitnehmen heißt auch, alle Beteiligten von Beginn an in den Prozess aktiv einzubinden. In diesem Sinne ist auch die AMC-Masterclass: Künstliche Intelligenz in der Assekuranz aufgesetzt worden, die einen strukturierten und praxisnahen Einblick in die verschiedenen Anwendungsbereiche Künstlicher Intelligenz gibt. Mehr unter: AMC-Masterclass KI

    Claudia Bünte: Aus meiner Erfahrung gelingt der Einsatz von KI mit folgenden 7 Paxistipps:

    1. Definieren Sie klare Ziele – wobei soll KI als Tool helfen, mit welchem Ziel?
    2. Lassen Sie sich Ergebnisse von anderen KI-Tool-Kund*innen des Toolanbieters zeigen und wählen Sie dann das passende für Ihren Bedarf aus.
    3. Checken Sie innerhalb Ihres Teams, wie hoch die Bereitschaft ist, KI einzusetzen. Wer Angst um seinen Arbeitsplatz hat, wird nicht gerne mitmachen (siehe kostenlosen KI-Typomat*). Wenn es zu viele Skeptiker*innen im Team gibt, lohnt es sich, die Unterstützung der HR-Abteilung zu holen.
    4. Managen Sie wie bei jedem wichtigen Projekt die Meilensteine mit Priorität. Machen Sie KI-Implementierung auch zur Chef*innensache.
    5. Monitoren Sie die Ergebnisse Ihrer KI-Tools auf ungewollte Effekte (Stichwort Diskriminierung).
    6. Hinterlegen Sie die Pilotierung mit ausreichend Budget und Zeit.
    7. Haben Sie Mut, Fehler zu machen, um aus ihnen zu lernen.
    * BONUS: Wer wissen möchte, ob er/sie KI-Optimist oder KI-Skeptiker ist, kann hier kostenlos und anonym sechs Fragen beantworten. Die persönliche Auswertung gibt es sofort online: kaiserscholle/ki-typomat/

    Verena Fink ist Gründerin und geschäftsführende Gesellschafterin von Woodpecker Finch. Sie ist Expertin für Customer Lifetime Value in der digitalen Transformation und agiert neben ihrer Beratungstätigkeit als Unternehmerin im Bereich Zukunftsökonomie und Neuroscience Marketing mit Startup-Projekten in San Francisco rund um Künstliche Intelligenz, Salesoptimierung, sowie Lösungen für Industrie 4.0. Sie ist Autorin mehrerer Veröffentlichungen zum Thema KI. 2020 ist ihr Buch „KI-Projekte – einfach machen“ im Springer/Gabler Verlag erschienen.

    Prof. Dr. Claudia Bünte ist seit fünf Jahren Professorin für „International Business Administration“ mit Schwerpunkt Marketing an der SRH Berlin University of Applied Sciences. Zuvor war sie in leitenden internationalen Positionen im Marketing u.a. bei Coca-Cola, McKinsey und Volkswagen tätig. Ihr Unternehmen Kaiserscholle GmbH berät Top-Manager*innen in Kernfragen der Markenführung und des Marketings wie z.B. der Implementierung von KI in Marketing-Prozessen. Sie ist Buchautorin, Keynote Speakerin und Sachverständige für Marketing und Werbung.